Endlich, endlich, endlich! Mein erster Besuch in der berühmten Kirche mit Fotoapparat. Man hat wohl eingesehen, dass man das Fotografieren nicht länger unterbinden kann. Es sei denn, man kassiert die Smartphones am Eingang ein. Kaum akzeptabel. Rechtzeitig habe ich mir mein Ticket gekauft, denn die Anzahl der Besucher ist coronabedingt noch immer limitiert. Umso größer meine Überraschung vor Ort. Dort wimmelt es nur so von Menschen und offensichtlich wird jeder hereingelassen, der an der Kasse bereit ist 25 Pfund zu zahlen. Das sind fast 30 Euro, aber dafür wird ja auch eine Menge geboten. Mit dieser Gewissheit im Kopf schob ich mich ins Innere der mächtigen Kathedrale. Der angebotene Kopfhörer, der mir als akustischer Führer dienen sollte, wurde von mir liegengelassen. Mich stört es eher gleichzeitig zuzuhören und zu schauen. Außerdem suche ich mir meine Wege lieber selbst. Was in der Kirche nicht einfach ist, denn zunächst wird man unweigerlich geführt. Etliche Absperrungen hindern die Besucher, dorthin zu gehen, wo sie möchten. Stattdessen folgt man zunächst einem langen Seitengang, biegt dann in andere ein, bevor man endlich das Herz des Gebäudes, nämlich das zentrale Kirchenschiff, erreicht.

 

 

 

Das Foto zeigt meinen ersten Blick in die Abbey. Ich stand noch ganz am Anfang der Tour und hatte erst einmal meine Kamera ausgepackt. Eine Prüfung der Lichtverhältnisse war nötig. Sie sind schlecht, weil oftmals starke Kontraste zwischen grell hereinfallenden Sonnenlicht und dunklen Ecken einen Kompromiss suchen. Gut, dass ich mich für ein besonders lichtstarkes Objektiv entschieden hatte, sonst wäre es problematisch geworden.

Neben den technischen Überlegungen kam mir aber schon bald ein ganz anderer Gedanke in den Sinn. Bereits beim allerersten Blick ins Innere hatte ich kein gutes Gefühl. Genaugenommen stieg Enttäuschung bei mir auf, auch wenn ich zunächst nicht genau sagen konnte, warum das so war. Wenig später verstand ich die Gründe besser und sie sind bereits auf dieser ersten Testaufnahme sichtbar. Die weltberühmte Kirche ist leider restlos überladen.

Immerhin begann der Bau des heutigen Gebäudes schon im Jahr 1245 und da haben sich über die vielen Jahrhunderte unzählige Tote angesammelt, die hier ihre Grab- oder wenigstens Gedenkstätte haben wollten. Und deshalb sind Wände und Böden voll von Reliefs, Figuren und unzähligen Texttafeln. Ob dort überall Knochen drunter liegen ist mir nicht bekannt, ich hoffe eher nicht, denn sonst würde man permanent auf einer von vielen Grabstellen stehen.

In jedem sich bietenden Platz stehen Gegenstände herum. So wie die abgedeckten Palettenwagen auf dem Foto. Dort lagern Dinge, die man nur gelegentlich benötigt und zwischenzeitlich notgedrungen in Ecken und Nischen lagert. Ein wenig fühlte ich mich an meinen Keller erinnert, den ich in den letzten Monaten komplett geräumt habe. Eine Mammutaufgabe, denn er ist ziemlich groß und war natürlich auch bis in den letzten Winkel gefüllt.

Folgen wir dem Flur und den Besuchern. Nach einigen Abbiegungen landen wir schließlich im zentralen Kirchenschiff. Dessen Architektur ist ohne Frage atemberaubend. Ein gotisches Meisterwerk mit dem Spitzbogen als zentrales Element. Fotografisch kaum zu meistern, jedenfalls reichte meine Ausrüstung dazu nicht aus. Die Flächen sind einfach zu groß, um sie auf ein Bild zu bannen. Da erwies sich meine Wahl des Objektivs (35 mm Festbrennweite) als ungeeignet. Gewiefte Kollegen haben deshalb eine ganze Auswahl dabei, aber ich gehöre zu den faulen Menschen und feilsche um jedes Gramm Gewicht.

 

 

 

Egal, wohin ich schaue, überall erkenne ich ein ähnliches Muster. An den Wänden wird auf die Toten hingewiesen. Den einzelnen in Stein gehauenen Szenen wurden in den Jahren immer mehr Personen hinzugefügt. Und so entstand eine ‘Plakatwand’ mit Hinweisen auf diverse Menschen. Alleine auf diesem kleinen Bild-Ausschnitt sehen wir dreizehn (vermutlich sogar mehr) Inschriften. Es erinnert an ein Wimmelbild und falls Sie gerade nachzählen, dann bitte nicht die Reliefs übersehen, die ebenfalls mit Namen und Daten versehen sind. Alleine auf der rechten Seite hat man unter Fieldmarshal George Wade auch den Kollegen James Outram gepackt; dazu Ann Whytell, Robert Cannon, John Laird Mair und schließlich noch einen Toten namens Lawrence dazwischengeschoben. Für mich zu viel, da reicht meine Konzentration nicht aus. Und wie zuvor erwähnt, alle Wände sind in dieser Weise genutzt worden. Ausnahmslos und zusätzlich die Fußböden.

 

 

Premierminister Neville Chamberlain muss sich mit seiner Bodenplatte in einer versteckten Nische zufriedengeben, andere traf es noch härter. Ihre Gedenktafeln sind längst zum Untergrund der Bestuhlung geworden. Vermutlich achtet kein Mensch mehr auf die Inschriften. Nur dem Grabmal des unbekannten Soldaten wird höchste Aufmerksamkeit geschenkt. Es wird von Papier-Blumen geschmückt und vorsichtshalber mit einer dicken Kordel abgeschirmt. Bitte nicht betreten, immerhin liegt es knapp hinter dem Eingang, wo jeder entlang kommt.

Ich bin noch keine halbe Stunde in der Kirche und habe bereits die Lust verloren. Im endlosen Gänsemarsch trotten wir durch schmale Gänge, über steile Stufen und durch unzählige kleine Räumen. War ich hier schon oder noch nicht? Ich hätte wohl doch den Kopfhörer mitnehmen sollen, aber ich mag die Dinger nun mal nicht.

Es gibt Bereiche, die dürfen nicht fotografiert werden. Womöglich habe ich es übersehen, denn auch im Heiligtum, wo die englischen Könige bestattet wurden, habe ich ein paar Fotos gemacht. Nur wenige, weil die Motive so langweilig sind. Dabei begegnet man hier großer Geschichte. Gleich hinter dem Hochaltar sind Sarkophage zu sehen. Darin die Skelette von King Henry VII und Richard II und als Höhepunkt das Grabmal von Queen Elizabeth I. Die steinernen Särge stehen hoch aufgetürmt, man kann nur einen flüchtigen Blick von unten erhaschen. Irgendwie langweilig und auch ein wenig unsortiert, wie ich es schon vorher erlebt hatte. Es wirkt auf mich bedrückend, jedenfalls möchte ich um nichts auf der Welt hier in aller Ewigkeit ruhen. (Zum Glück habe ich längst meine Grabstätte gefunden, nämlich im ‘Garten der Frauen’ in Hamburg Ohlsdorf, wo die schönsten Blumen wachsen und muntere Vögel melodisch twittern.)

 

 

Ich umkreise die Königsgräber und kehre zum Hochaltar zurück. Der zentrale Ort der Kirche, soviel weiß ich, wenn ich mich auch mit den praktischen Bräuchen kaum auskenne. Gleich davor stehen einige besondere Bänke. Sie sind für hohe Gäste reserviert. Nimmt ein Mitglied der königlichen Familie an einem Gottesdienst teil, dann wird er oder sie hier Platz nehmen. Der König hat den Eckplatz, der dem Altar am nächsten steht. Gerne hätte ich dort pausiert, aber natürlich ist es abgesperrt. Das ist auch besser so und das spezielle Kissen, das die harte Holzbank bequemer machen soll, hat man vorsichtshalber auch weggeschlossen. Immerhin kann ich ein Foto machen.

 

 

Wahrscheinlich werde ich jetzt ungerecht, aber mir ist der Altar ebenfalls zu überladen. Auf mich wirkt er wie eine Jahrmarktsbude (jetzt mache ich mir Feinde unter meinen Lesern) und erneut bleibt eigentlich kein Eindruck bei mir hängen. Wo soll man denn zuerst hinschauen? Was ist wichtig, was nur Beiwerk. Für mich ist es nicht erkennbar, alles scheint gleich wichtig zu sein und damit austauschbar und beliebig.

Nach diesem Foto habe ich genug. Ich habe zwar längst noch nicht alles gesehen, aber ich bin schon jetzt innerlich völlig überfüllt. Ich muss hier raus, brauche etwas Einfaches, um zur Besinnung zu kommen. Zum Glück findet man auch das in der Westminster Abbey, nämlich im Anbau, dem sogenannten Cloister. Dort gehe ich öfter hin, denn der Besuch ist kostenfrei und der Ort bei Touristen kaum bekannt. Vorher noch ein letztes unverzichtbares Bild auf einen der vielen großen Namen, die hier ihre letzte Ruhestätte gefunden haben. Ich finde sofort das Gesuchte, nämlich das Grabmal von Isaac Newton und gleich daneben von James Stanhope. Dazwischen montiere ich das Foto eines modernen Fensters, das mir sehr gefallen hat. Die Farbe und Klarheit der Flächen sind ein deutlicher Kontrast zur kunterbunten Wunderwelt in der Abtei.

 

 

Gab es denn gar nichts, was mir gefallen hat? Ehrlicherweise muss ich fast zustimmen. Und doch kann ich mir einen zweiten Besuch vorstellen, dann aber im Rahmen eines Gottesdienstes. Täglich am späten Nachmittag findet in vielen anglikanischen Kirchen eine Meditation statt, die ‘Evensong’ genannt wird. Die Chöre stehen dann im Mittelpunkt und man kann innerlich zur Ruhe kommen und gleichzeitig Energie tanken. Die Hektik des Tages wird unterbrochen und die Kirche dient ihrem eigentlichen Zweck. Man braucht keine Anmeldung und kein Ticket. Bei meiner Besuchertour war das anders, denn am Ende meines Rundganges wurde noch einmal um eine Spende gebeten: “Donations welcome … thank you.” Das Schild steht unmissverständlich im Weg zum Ausgang. Eigentlich ein starkes Stück, denn immerhin hatten wir bereits gezahlt. Und weil ich meine Tour schon frühzeitig abbrach, gönnte ich mir dann doch noch einen Zuschlag im Klostergarten. Und als ich dort sitze, auf den Rasen schaue und den hoch aufragenden Turm der Abtei in Reichweite bestaune, da finde ich die Kirche dann doch wunderschön und freue mich, dass ich sie endlich besuchen konnte.

 

Eine schön gestaltete Decke finde ich in einem kleinen Durchgang, der mich zum Kloster führt.

 

Mein negativer Eindruck soll Sie nicht davor abhalten, selbst einmal die Tour zu machen. Zum Glück empfinden wir unterschiedlich und müssen uns auch deshalb nicht alle um denselben Partner prügeln. Falls man beim Aufenthalt in London zeitlich limitiert ist und sich nur eine Kirche gönnen will/kann, dann würde ich mich auf jeden Fall für die St Paul’s Cathedral entscheiden. Sie ist nicht ganz so alt wie die Westminster Abbey, aber fraglos auch ein architektonisches Meisterwerk. Das Innere hat mich sofort beeindruckt, in seinen Bann gezogen und gleichzeitig fühlte ich mich dort sehr wohl. Vielen Besuchern scheint es so zu gehen, denn sie nehmen sich die Zeit, um eine Pause einzulegen. Man sucht sich einen Stuhl, kommt kurz zur Ruhe und lässt die Atmosphäre auf sich einwirken. Tote gibt es auch in der Kathedrale, und zwar dort, wo sie hingehören. Sie wurden in der Krypta bestattet. Ein riesiger Keller mit ganz eigener Wirkung. Äußerst stimmungsvoll und sehr einfühlsam. Ich brauchte zwei Besuche, um alles zu erkunden. Das war aber kein Problem, denn die Kollegen in St Paul’s wandeln das Ticket gerne gegen einen geringen Aufpreis um. Dann gilt es ein ganzes Jahr lang. Prima Sache.