Auf die Liste der Orte, die man unbedingt in London sehen will, muss man die weltberühmte Kirche gar nicht einfügen. Man wird ganz automatisch dort vorbeikommen. Sie liegt nämlich nicht nur zentral in London, sondern auch an der Haupt-Verkehrsachse, die Westminster mit der City verbindet (Strand – Fleet Street). Gefühlt mag der Trafalgar Square Londons Mittelpunkt sein, postalisch ist es die St Paul’s Cathedral. Dort verläuft die Nahtstelle zwischen den postal codes WC1 und EC1 (West-City / East-City). Je weiter ein Stadtteil entfernt liegt, desto höher wird die Ziffer. Greenwich ist beispielsweise SE3 (South-East). Ein sehr praktisches System, wenn man es einmal durchschaut hat. Und zusätzlich stehen die postal codes auch noch auf den Schildern neben den Straßennamen. So hat man eine ungefähre Vorstellung, wo man sich befindet.

 

 

Ich nutze in London meistens den Bus. Die Haupt-Linien fahren alle den Strand entlang, wo auch mein Hotel liegt. Egal, ob zum Tower oder in den Hyde Park, die passende Linie hält vor der Tür. Und bis zur Cathedral haben alle dieselbe Streckenführung, denn es gibt keinen anderen Weg. Erst danach fächern sich die Buslinien auf. So kommt es, dass ich oft mehrmals täglich an der berühmten Kirche vorbeifahre und oft spontan entscheide, dort einen Zwischenstopp einzulegen. Nicht immer betrete ich den imposanten Bau (Jahresticket macht’s möglich), sondern laufe auch gerne in der unmittelbaren Nachbarschaft umher. Dort erlebt man den Alltag der Londoner Angestellten hautnah. Die Börse liegt unmittelbar am Paternoster Square, hinter der Kathedrale, und in der Fleet Street, wo jahrzehntelang die Presse zu Hause war, sind längst zahlreiche Büros nachgerückt. Den ganzen Tagen huschen die Mitarbeiter über die Straßen und zeigen mir, wie lebendig ihre Stadt ist. Alle sind auffallend elegant gekleidet und sobald sich zwei oder drei begegnen, wird meistens viel gelacht.

Als ich dort mal wieder unterwegs war, entdeckte ich einige interessante Häuser. Sie waren etwas versteckt, in den Nebenstraßen zu finden. Ich wollte wissen, wo ich gelandet war und stutze, als ich das Straßenschild las. Darauf stand ‘Amen Corner’. Meine spontane Assoziation war ein Liedtext, dessen Melodie mir im selben Moment in den Sinn kam. “If paradies is half as nice …” summte ich vor mich hin und wurde den Song bis zum Abend nicht wieder los. Ein Ohrwurm aus den 60-er Jahren von einer walisischen Band mit dem Namen ‘Amen Corner’. Die Herren dürften heute im Greisenalter sein, aber ihr Lied ist jung geblieben. Es dauerte mehr als einen Moment, bis mir dämmerte, dass der Straßenname kaum an die Rockstars erinnern soll. Man wird eine ganz andere Quelle genutzt haben, nämlich die Bibel. Das deutsche ‘Amen’ wird in der englischen Sprache identisch geschrieben, wenn auch anders ausgesprochen. Und spätestens an der Kreuzung ‘Amen Corner / Ave Maria Lane’ fiel dann der Groschen. The penny eventually dropped.

Bei den Straßennamen rund um die St Paul’s Cathedral hat man sich biblischer Ausdrücke bedient, warum auch nicht? Die Kirche gehört übrigens zur anglikanischen Glaubensgemeinschaft, aber das konnte auch gar nicht anders sein, denn sie spielte stets eine bedeutende Rolle bei großen Anlässen. Sowohl Staatsbegräbnisse als auch königliche Hochzeiten wurden hier gefeiert. St Paul’s war jahrhundertelang das Zentrum der Stadt. In vielerlei Hinsicht. Die Kathedrale war sogar bis Mitte des letzten Jahrhunderts das höchste Gebäude in London. Dann wuchsen ihr die Hochhäuser der City über den Kopf, oder besser gesagt Kuppel, und schließlich grüßte das über 300 Meter hohe Shard Gebäude vom Südufer der Themse. Da war dann St Paul’s nur noch ein Zwerg, aber die Ausstrahlung blieb. Steht man abends auf der Waterloo Bridge und schaut flussabwärts, dann entfaltet sich das ganze Panorama der City. Ein prachtvoller Anblick. Die Lichter in den Fenstern der Hochhaustürme glitzern vor dem schwarzen Nachthimmel und bieten eine eindrucksvolle Kulisse. Davor erkennt man die Umrisse der Kathedrale. Sie liegt näher am Themseufer und steht optisch vor der Lichterwand der City. Es wirkt auf mich oft so, als würden die Büroriesen die alte ehrwürdige Kathedrale schützend in ihre Mitte nehmen. Das Licht, das die helle Kuppel reflektiert, nimmt jeden in den Bann. Nein, man muss sich um St Paul’s keine Sorgen machen; die alte, ehrwürdige Kirche steht noch immer im Mittelpunkt des Betrachters.

Nachgelesen:

Amen Corner: Laut Legende sind Mönche am Himmelfahrtstag singend um die Kathedrale prozessiert. Sie begannen ihr Gebet mit ‘Pater noster qui es in …’ und zogen betend den Weg entlang. Dabei folgten sie der Paternoster Lane. Das Gebet endete wie üblich mit dem ‘Amen’ und das passierte genau an der Ecke, die heute ‘Amen Corner’ heißt. Dort kehrten sie dann um und gingen schweigen in die Kirche zurück.

Paternoster Square: Das Gebet ‘Vater unser …’ beginnt in lateinischer Sprache mit den Worten ‘Pater noster …’.