Meine Güte, wie die Zeit vergeht. Sie rennt durch die Jahre, eilt schon wieder ihrem Ziel entgegen, nur um dort gleich die nächste Runde starten zu können. Dieser Moment, wo Ziel und Start eins sind, passiert täglich, aber wir nehmen ihn nur am Silvesterabend bewusst wahr. Schon am Neujahrsmorgen verblasst die Erkenntnis, genau wie die guten Vorsätze. Macht nix, denn auch die sind täglich neu definierbar, wenn man dann will. 

Natürlich habe ich wie die meisten den Jahreswechsel genutzt, um Bilanz zu ziehen, zurückzublicken und gleich danach neue Ziele in der Zukunft zu stecken. Wie vermutlich viele, habe ich gedanklich das Jahr 2022 Revue passieren lassen und überlegt, ob sich etwas Lohnenswertes in meinem Alltag geändert hat. Vor allem in welche Richtung die Reise ging. Hoffentlich in die richtige. Als ich beim Abwägen war, die Vorjahre zum Vergleich heranzog, merkte ich, dass ich nun schon seit neun Jahren regelmäßig in London zu Besuch bin. Nicht schlecht, wenn auch in den letzten Jahren deutlich weniger häufig als vor der Coronapandemie. Die ist für mich zum Meilenstein geworden, wann immer ich über Lebensphasen nachdenke. Da gibt es das Leben davor und dann die Zeit danach. Dazwischen ein schwarzes riesiges Loch, eine Wand, die alles voneinander trennt.

Um meine Gedanken klarer zu fassen, hilft es mir, wenn ich das gewünschte Bild erst einmal ganz real entwerfe. Also mit Bleistift und Papier. Da werden ‘Meilensteine’ notiert, mit Linien verbunden und etliche Symbole verteilt. Man nennt es ‘Mindmapping’ und es ist tatsächlich hilfreich. Oder ich versuche, die vergangene Zeit einzufangen, indem ich Daten auf einem Zeitstrahl verteile und auf diese Weise Entwicklungen aufspüre. Dabei bin ich in diesen Tagen gleich zweimal über denselben Irrtum gestolpert. Er betrifft die Pandemie, die zwar tief in unser aller Leben eingegriffen hat, aber zeitlich eigentlich viel kürzer als gefühlt war. 

Denke ich an die wunderbaren Jahre zurück, die ich seit meinem ersten Besuch in London erlebte, dann fühle ich immer einen abrupten Halt im Frühjahr 2020. Damals wurden erstmals Ausgangsbeschränkungen verhängt, die Hotels schlossen und die Flugzeuge blieben am Boden. Tatsächlich aber begann der Trouble schon vier Jahre früher. Ich kann sogar das Datum benennen: 24. Juni 2016. Ich kann mich noch immer lebhaft erinnern. Es muss ein Freitag gewesen sein, denn am Tag zuvor gab es eine Volksabstimmung. Wir wachten auf, hörten die Nachrichten der BBC und erfuhren vom beschlossenen Austritt aus der EU. Ein Donnerschlag, denn niemand hatte das gewollt. Natürlich hatten viele ‘Yes’ angekreuzt, aber doch nicht, um die EU zu verlassen! Man hat es gemacht, weil es witzig schien. Genauso gut hätte auf dem Zettel stehen können, ob man für oder gegen die Abschaffung der Monarchie ist. Viele hätten mit ‘Ja’ gestimmt, obwohl sie ihr Königshaus lieben und behalten wollten. Sie machten es nur, weil der Gedanke an den Sturz der Monarchie (oder Austritt aus der EU) so absurd schien und deshalb die Zustimmung verlockend verrückt. So etwas macht Spaß, besonders zwischen dem dritten und vierten Pint Lager Beer. “They will look a bit stupid after the result”, malte man sich amüsiert aus. Niemand rechnetet damit, dass die Abstimmung irgendwelche Konsequenzen haben würde. Sie fanden zwar die vielen EU-Vorschriften lästig, genossen aber die Freizügigkeiten beim Reisen, bei der Arbeit und beim Einkauf. Und das galt ganz besonders für London.

“Europe’s refusal to be Britain is precisely why many of us voted to leave it.”

Schaue ich meine Skizze an, dann sind die Tatsachen anders, als ich sie empfinde. Ich bin nur also seit Januar 2014 den Londonern (besonders einem) eng verbunden, habe zwei unbeschwerte Jahre voller Glück erlebt und dann dreieinhalb Jahre Stress und Zukunftsangst. In der Zeit habe ich zwangsläufig die britische Politik im Detail kennengelernt, darunter bis heute fünf Premierminister. Covid nimmt nur eine relativ kurze Phase ein, wenn auch gleich im Anschluss an das Brexit-Desaster. Bis heute gibt es keinen klaren Schnitt, noch immer wird nachverhandelt, vor allem in der sog. Nordirland-Frage. Aber nach drei Jahren ‘Freiheit’ stellt sich der versprochene Erfolg nicht ein und das wirft unangenehme Fragen auf. Statt des versprochenen Paradieses trifft das Gegenteil zu, England rutscht weit zurück, wenn man deren Wirtschaftsdaten mit Frankreich oder Deutschland vergleicht. Bis Mitte/Ende 2022 schob die britische Regierung den Misserfolg auf die Pandemie. Das ist inzwischen unglaubwürdig, es muss andere Gründe geben. Einer hat sich jetzt getraut, sie auszusprechen. Es war der Londoner Bürgermeister Sadiq Khan. Er legte den Finger in die Wunde. Vor einer hochrangigen Gesellschaft aus Wirtschaftsleuten und Politikern erklärte er den Brexit für gescheitert. Er sagte: “… the consequences of leaving the EU can’t be airbrushed out of history. I simply can’t keep quiet about the immense damage Brexit is doing.” Und ergänzte dann in klaren Worten, wie es aktuell in London aussieht: “After two years of denial and avoidance, we must now confront the hard truth: Brexit isn’t working. It’s weakened our economy, fractured our union and diminished our reputation. But, crucially, not beyond repair.” Er schlug die Kehrtwende vor. Er ermunterte sofortige Anstrengungen zu unternehmen, um wirtschaftlich wieder Teil der EU zu werden. Das Modell der Schweizer könnte auch für Großbritannien wegweisend sein. 

Das wird dann wohl noch dauern, bis die ungetrübt glückliche Zeit zurückkommt, die ich manchmal vermisse. Im Mai wird es landesweite Kommunalwahlen geben. Eine neue Chance den Verantwortlichen die Quittung auszustellen. Man rechnet bei der konservativen Tory Partei mit hohen Verlusten. Gleichzeitig sattelt man aber auch ein Pferd, dass noch einmal den Sieg bringen soll. Es scheint, dass der aus dem Amt gezwungene Boris Johnson noch immer auf Rückkehr hofft. Wenn er irgendetwas wirklich kann, dann sind es Wahlkämpfe. Das kann also spannend werden. Aber eigentlich habe ich keine Lust mehr. Es gibt Themen, die sich überlebt haben. Sie sind weit über ihr Verfallsdatum hinaus und sollte rasch entsorgt werden. Sonst fängt es an zu stinken. Darunter zähle ich den Brexit, lebensbedrohliche Pandemien aller Art und klagende Erinnerungen vom jüngsten Sohn des Königs. Alles Dinge von gestern, langweilig und eigentlich längst mausetot.