London betrachtete sich lange als Mittelpunkt der Welt. Der machtpolitische Einflussbereich umfasste tatsächlich den ganzen Erdball. Selbst heute kann man den geopolitischen Einflussbereich noch immer weit fassen, wenn man sich einmal vor Augen führt, wer alles zum Commonwealth gehört: Das reicht von Australien über Südafrika nach Kanada. Natürlich sind die Mitgliedsstaaten inzwischen längst souverän und bilden eher einen lockeren Verbund, aber im Zentrum steht nach wie vor Great Britain und das Königshaus. Und so kommt es, dass man an den entlegensten Ecken der Welt auf Hinweistafeln stoßen kann, die anzeigen, wie weit es von diesem Ort bis nach London ist. Natürlich wird immer die kürzeste Strecke, also die Luftlinie, angegeben. Da liest man dann vielleicht so: ‘London 10551.95 miles’ und man fragt sich, wer hat das nachgemessen? Und vor allem bis zu welchem Punkt? Es werden ja nicht ‘around 10500 miles’ angegeben, nein, man hat es auf die letzten Zentimeter, sorry I mean feet, vermessen. Wo also ist dann der genaue Punkt in London zu finden, der von allen Richtungen aus angepeilt wurde? Das wollte ich herausfinden.

Einen ersten Hinweis hatte ich in der Zeitung entdeckt. Dort waren die Koordinaten vermerkt, wo sich alle weltweit angegebenen Distanzstrecken treffen. Mit einem Computer und einem GPS Programm lässt sich das heute relativ einfach ermitteln. Aber leider hatte man den Ort nur sehr oberflächlich beschrieben, er sollte sich nahe einer Sitzbank, vor dem King’s College in London, befinden. Das ist ein zentral gelegenes, recht weitläufiges Gebäude in Westminster, umgeben von dutzenden Parkbänken. Um weiterzukommen, brauchte ich mehr Informationen. Und so fragte ich als Erstes einen Londoner Taxifahrer, einen echten cabby, wo er den Mittelpunkt der Stadt verorten würde. Seine Antwort kam, ohne zu zögern: “Piccadilly Circus of course, what else?” Das leuchtete mir ein, denn der relativ kleine Verkehrskreisel ist wohl das engste Nadelöhr in Londons Straßenverkehr. Und alleine schon optisch eine echtes ‘bulls eye’, also ein Mittelpunkt. Wer den Piccadilly Circus jemals selbst am Steuer sitzend gemeistert hat, muss vor nix mehr Angst haben. Dass sich Taxifahrer daran orientieren, ist nachvollziehbar.

Fragt man aber den Londoner Einwohner, dann bekommt man eine andere Antwort. Sie sind sich einig, dass der Trafalgar Square der Mittelpunkt ihrer Stadt ist. Eigentlich weichen sie damit nur marginal von den Taxifahrern ab, denn die beiden Plätzen liegen sehr nahe beieinander. Aber die Londoner konnten für ihre Theorie einen starken Beweis liefern, nämlich eine Plakette, die ich am Reiterdenkmal von King Charles I. finden würde und die ich mir mal ansehen sollte. Na, da lasse ich mich doch nicht zweimal bitten.

 

 

Den Trafalgar Square kenne ich inzwischen recht gut, aber ich wusste nicht auf Anhieb zu sagen, wo das Denkmal zu finden wäre. Auf dem Platz stehen etliche Bronze-Figuren, aber zum Glück nur wenige Männer hoch zu Ross und deshalb sollte es sich schnell klären lassen. Natürlich kam es dann anders, denn ich konnte den gesuchten König nirgends entdecken. Ich wollte schon aufgeben, da fiel mein Blick auf die Verkehrsinsel, die sich südlich des großen Platzes anschließt. Tatsächlich ist dort ein Reiterdenkmal mittig aufgestellt. Es ist gar nicht so einfach hinzukommen, denn der Verkehr saust ununterbrochen rund um diese kleine Fläche und nirgends ist eine Ampel zu finden. Schließlich gebe ich mir einen Ruck und löse die Sache gekonnt wie ein Londoner. Einfach mit einem Lächeln quer durch den Verkehr tanzen … und siehe da, es funktioniert. Ich komme lebend bei King Charles I. an. Der gibt aber leider wenig über sich preis. Ich umkreise sein Denkmal ein-, zweimal und entdecke dann doch noch das Gesuchte. Eine unauffällige Platte, etwas abseits vom stolzen Reiter, eher zufällig, hinter ihm, wurde im Boden eingelassen.

Diese Plakette markiert den Kreuzungspunkt der Straßen The Mall, Whitehall + Strand und gilt als geografischer Mittelpunkt von London. Dieser Ort ist das alte Charing Cross, das man heute eher mit dem ganz in der Nähe gelegenen gleichnamigen Bahnhof verbindet. Und tatsächlich hat man das eigentliche Kreuz, das Charing Cross, dorthin transportiert und vor dem Haupteingang aufgestellt. Das passierte wohl im Zuge der Neugestaltung des Trafalgar Square und des gleichzeitigen Bahnhofneubaus.

Geschafft, der ‘Geographical Centroid of London’ ist gefunden, oder? Ach du Schreck, die Koordinaten stimmen nicht und das King’s College ist auch nicht hier, sondern am ganz anderen Ende vom Strand. Ich gebe nicht auf, jetzt will ich es wissen. Ich marschiere die Straße hoch, biege zur Waterloo Bridge ein und folge dem Victoria Embankment, immer am Ufer der Themse entlang. Hier beginnt gleich die City of London und genau dort sollte ich mal nach einer passenden Bank Ausschau halten. Es würde mich gar nicht wundern, wenn der wirkliche Mittelpunkt genau auf dieser Grenze zwischen Westminster und der alten City festgelegt wurde. Das ist uraltes, bedeutsames Terrain. Sozusagen die Keimzelle der Stadt.

Blöd nur, dass alle einhundert Meter eine Sitzbank aufgestellt ist. Eine davon hat aber eine besondere Position, denn sie steht unmittelbar vor der gesuchten (virtuellen) Grenze. Hinter mir fließt die Themse und gegenüber, an der anderen Straßenseite, erkenne ich die Südfassade des Somerset Houses. Irgendwo dort sollte auch das King’s College untergebracht sein. Ich bin mir ziemlich sicher dem gesuchten Ort sehr nahe zu sein und das kann ich mit einfachen Bordmitteln sogar überprüfen. Machen wir also die Nagelprobe und lassen uns vom Satelliten per GPS orten:

 

 

Hurra! Volltreffer. Ich habe den geografischen Mittelpunkt von London gefunden, er liegt keine fünfhundert Meter von meinem Hotel entfernt und damit darf es zu Recht mit dem Slogan werben: ‘Stay in the heart of London.’ Und ich habe das Vergnügen hier ein paar sehr spannende Tage und herrlich traumreiche Nächte zu verbringen. – Weil mir Längen- und Breitengrade meines Heimatortes (Hamburg) vertraut sind, ist es für mich merkwürdig zu lesen, dass ich mich tatsächlich auf einer westlichen Länge befinde. Aber das nur nebenbei, denn die meisten werden kaum wissen, wo sie gerade sind.

 

 

Verlängert man die Strassen ‘Mall, Strand + Whitehall’, dann treffen sie auf der kleinen Verkehrsinsel zusammen. Nachdem der Trafalgar Square umgebaut wurde, dominiert er den Platz. Aber vor einhundert Jahren war das noch anders. Da stand das Reiterdenkmal von King Charles I. im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit.