Die Crown Passage entdeckt man nicht beim ersten London Besuch. Die kleine Gasse drängt sich nicht auf, sie will erobert werden. Links und rechts von hohen Hauswänden flankiert, die vermutlich keine zwei Meter voneinander entfernt stehen, gehört die Passage trotzdem nicht zu den wirklich schmalen Durchgängen (Brydges Place beim Trafalgar Square misst an einer Stelle nur 38 cm. Bauch einziehen!). Dagegen lädt die Crown Passage zum entspannten Schlendern ein. Sogar zu zweit kann man untergehakt ganz gemütlich die Gasse entlanggehen.

Wir finden den schmalen Weg, der durch die mehrgeschossigen Häuser führt, mitten in St James’s. Die Passage verbindet die Pall Mall mit der King Street. Läuft man in Richtung Süden, dann führt sie einen direkt zum alten St James’s Palace. Dessen mächtige Eingangspforte liegt dann genau vor einem. Einer der bekanntesten Regenten, die dort lebten, war Heinrich der Achte (16. Jahrhundert). Der Palast kann leider nicht besucht werden, vermutlich ist er dafür viel zu klein, aber er wird noch immer genutzt. Die Royal Princess verleiht dort die begehrten Orden und ihr Bruder, King Charles III., wohnt gleich nebenan im Clarence House.

Die Gegend war also schon früh das royale Zentrum und die königlichen Lieferanten eröffneten ihre Filialen bevorzugt in der Pall Mall oder St James’s Street. Nun gab es aber auch kleinere Läden, deren Auslagen nicht ganz so verlockend wirkten und die duldete man bestenfalls in der zweiten Reihe. Das königliche Auge sollte sie möglichst gar nicht sehen. Die Lösung waren Gassen wie die Crown Passage und schon bald zogen erste Händler dort ein. Noch heute entdeckt man in fast allen Durchgangs-Gassen kleine, sehr interessante Geschäfte, die die wenig attraktive Lage durch ein besonders kreatives Angebot wettmachen. Laufkundschaft kommt bei ihnen praktisch nie vorbei, aber sie leben von ihrem Ruf und der wird unter den Stammkunden weitergereicht.

Fast immer wird man dort auch wenigstens einen Ausschank finden. In der Crown Passage ist es das legendäre ‘Red Lion’ Lokal. Der Wirt behauptet, die zweitälteste Ausschank-Lizenz in Westminster zu haben. Das kann gut sein, wenn auch verdammt viele seiner Londoner Kollegen genau dieselbe Geschichte erzählen. Vermutlich gilt für die allermeisten, dass ihre ‘public houses’ schon seit mehreren hundert Jahren existieren und zum Glück noch immer in Betrieb sind. Wie alle guten ‘water holes’, kann auch ‘The Red Lion’ mit ein paar guten Geschichten aufwarten. Niemand weiß, ob sie wahr sind oder eher eine fantasievolle Erfindung. Eigentlich ist das auch egal, solange die Story gut ist. Eine davon betrifft eine berühmte Dame namens Nell Gwynne. Sie war eine der bekanntesten Schauspielerinnen ihrer Zeit, trat in Covent Garden auf, und galt über viele Jahre als wichtigste Mätresse von Charles II. Sie gebar ihm mehrere Kinder, das war unvermeidlich und ohne skandalösen Tadel, denn der König hatte bereits für den ehelichen Nachwuchs gesorgt. Mit anderen Worten, die Pflicht war erledigt. War ein gesunder Thronfolger geboren, konnte er machen, was ihm gefiel. Trotzdem wurden die regelmäßigen Besuche von Nelly, im Schlafzimmer des Königs, diskret behandelt und dazu diente angeblich auch das ‘Red Lion’. Man munkelt nämlich von einem geheimen Tunnel, der direkt vom Keller des Pubs in den Palast führen soll. Technisch sicherlich möglich und dass die königliche Geliebte dort Stammgast war, ist ganz real belegt.

Ich gehe abends gerne durch die etwas unheimlichen Passagen, die es hundertfach in London gibt. Ein leichter Kitzel stellt sich ein und meistens spukt kurz Jack the Ripper durch meine Gedanken. Aber dann überwiegt die Neugierde und komischerweise fühle ich in London selten Angst (trotzdem immer schön vorsichtig sein!). Wenn dann auch noch ein Pub geöffnet hat, trifft man auf vergnügte Leute. Sie stehen in der engen Gasse, genießen den Drink und die frische Luft. Ein Kältegefühl scheinen sie nicht zu haben, was vielleicht mit dem Bierkonsum zu tun hat. Der Grund für meinen späten Besuch in den Passagen und Hinterhöfen sind die Gaslaternen. Manchmal stehen sie dort noch immer und sind nach wie vor im Betrieb. In der Crown Passage kann man dieses besondere, sehr warme Licht erleben. Keine elektrische Birne kann das auch nur annähernd produzieren. Wenn Sie es mal erleben wollen, dann sollten Sie einen Abendspaziergang über die Mall machen. Im Hintergrund sehen Sie dann den hoffentlich angestrahlten Buckingham Palace und an der rechten Straßenseite finden Sie die alten Londoner Gaslaternen. Ein guter Einstieg, denn am linken Straßenrand, also zum Park hin, wird der Weg modern beleuchtet. Nirgends kann man den Unterschied besser erleben.