Mein erster Weg in London führt mich immer zum Trafalgar Square. Und übrigens auch der Letzte, der mir deutlich schwerer fällt, weil ich dann Abschied nehmen muss. Spätestens dann stelle ich mir die bis heute unbeantwortete Frage: Wo bin ich eigentlich zu Hause? In London begleitet mich oft das Gefühl, mich selbst zu treffen. Und das gilt auch dann noch, wenn sich unzählige Touristen um mich herum drängen und ihre Kinder auf das Löwendenkmal, zu Füßen von Admiral Horatio Nelson, setzen, um das ‘besondere Foto’ zu schießen. Das stört mich dann alles nicht, dann fühle ich mich plötzlich ganz und gar englisch, fühle mich sicher und geborgen, und betrachte das respektlose Treiben mit größter Gelassenheit, genau wie der Admiral hoch oben auf seiner Siegessäule.

Trafalgar Square hat viel zu bieten. In den Morgenstunden trifft man dort noch richtige Londoner, die quer über den dann noch menschenleeren Platz eilen, um rechtzeitig zur Arbeit zu kommen. Etwas später trudeln die Touristen ein, sammeln sich zu hunderten im Square und bleiben bis spät abends.

Ganztägig kreisen die roten Doppeldeckerbusse und die (nicht immer) schwarzen Taxen um den Platz herum. Mit Leichtigkeit zählt man 12, 13 oder sogar 14 Busse auf einen Blick. Auf der Terrasse vor der National Gallery finden sich die Straßenkünstler ein. Einige malen mit bunter Kreide täglich aufs neue ihre großformatigen, plakativen Bilder auf das Straßenpflaster. Andere bieten sich selbst als Fotomotiv an. Sie stehen stundenlang regungslos und oft etwas bizarr in der Luft schwebend vor der Treppe zur Galerie. Wer sie fotografiert, wird gebeten dafür zu zahlen, was nicht selten zu großer Überraschung führt. „Was??? Das kostet? Aber der tut doch gar nix, steht da nur so rum.“ Ja eben, deshalb will er ein Honorar. „Wie, was??? So weit kommt’s noch. Das ist doch keine richtige Arbeit.“ Immerhin sind die Figuren interessant genug, so denke ich mir im Stillen, dass jeder ein Foto davon haben will. – Übrigens machen Sie nie den Fehler, der mir passierte. Schauen Sie niemals zu, wenn die Figur im Auf- oder Abbau ist. Dann lässt es sich nämlich nicht vermeiden, den Trick zu zeigen, wie das Ganze funktioniert. Und prompt ist die Luft raus. Gelüftete Geheimnisse verlieren ihren Reiz. Gilt übrigens auch für das Königshaus, das gut beraten ist, wenn es nicht allzu normal wirken will.

 

 

Die vier Löwen am Fuß der Nelson Säule, -sie ist ebenso hoch wie der Mast seine Schiffes ‘Victory’-, sind vielleicht das meistfotografierte Motiv an diesem Ort und deshalb will ich sie mir einmal näher ansehen. Sie wurden schon 1867 installiert, haben also bereits einiges erlebt. Sie sind aus Bronze gefertigt und überraschend groß. Trotz, der Weite des Platzes, wird man sie kaum übersehen. Vier erwachsene Männer können problemlos auf einem ihrer Rücken sitzen, das habe ich selbst nachgezählt, als im Dezember hunderte Weihnachtsmänner hier den Santa Dash feierten. Auf den ersten Blick sehen die vier Löwen identisch aus, aber wenn man sich ihre Gesichter genauer ansieht, dann erkennt man kleine Unterschiede. Mit anderen Worten, sie wurden nicht maschinell hergestellt. Jeder ist ein Unikat und Handarbeit.

Wie so oft haben sich die Londoner Stadtväter nicht lumpen lassen und einen recht bekannten englischen Maler und Bildhauer für das Löwendenkmal gewonnen. Man beauftragte Sir Edward Henry Landseer. Er war damals 56 Jahre alt und hatte längst sein künstlerisches Können unter Beweis gestellt. Viele seiner mehrfach prämierten Bilder zeigten Tiere, darunter Pferde, Hirsche, Jagdhunde und Raubvögel. Einen Löwen hatte er allerdings noch nicht porträtiert, aber das sollte keine unüberwindliche Hürde sein. Dachte man.

Vielleicht war Sir Edward ein überaus gewissenhafter Handwerker, der Zeit für seine Arbeit brauchte, aber vielleicht steckt er auch einfach nur in Schwierigkeiten. Jedenfalls hatte er nach vier Jahren in der Werkstatt noch gar nichts gefertigt und konnte deshalb auch nichts vorzeigen. Mehrmals fragten die Londoner Auftraggeber nach, immer ohne Erfolg. Lediglich einige Skizzen, die er im Londoner Zoo gezeichnet hatte, konnte er Landseer vorweisen.

Tagein, tagaus hockte er vor dem Löwenkäfig im Regent’s Park und versuchte das Wesen der Tiere mit dem Zeichenstift einzufangen. Irgendwie kam er aber nicht recht voran und schließlich gab er den Raubkatzen die Schuld. Sie würden nicht stillhalten und er könne seine Studien nur dann fortsetzen, wenn man ihm ein totes Exemplar zur Verfügung stellen würde. Damit war man grundsätzlich einverstanden, allerdings sollte natürlich kein Löwe dafür sterben. Man wartete ab und hatte Glück. Schon zwei Jahre später, also um 1864, verendete eines der Tiere. Man karrte es dem Künstler in sein Londoner Studio, wo er sich sofort an die Arbeit machte. Aber schon nach wenigen Tagen bahnte sich neues Ungemach an. Der Tierkadaver fing an sich zu zersetzten und schon bald darauf wurde ein so bestialischer Geruch freigesetzt, dass das Experiment abgebrochen werden musste.

Immerhin hatte Sir Edward es inzwischen geschafft, die Körper der Tiere in Bronze zu gießen, alleine die Füße bereiteten ihm nach wie vor größte Sorgen. Der arme Mann wusste einfach nicht, wie eine Löwenpranke aussieht. Woher sollte er es auch wissen? Und so lieferte er erst einmal die Vierergruppe ohne Tatzen an.

 

Einer der vier Löwen. Auch seine Pfoten wurden erst später montiert. Der kleine Junge steht an der richtigen Stelle. Er schaut sich interessiert die Schweißnaht im Metall an. Man kann sie deutlich sehen und er stellt sich die richtige Frage. Wozu dient sie?

 

Es sollte noch ein paar Jahre dauern, bis Sir Edward die fehlenden Füße nachlieferte. Mit Lötlampe und Kolben wurden die Beine montiert und dann konnte endlich die Einweihung stattfinden. Das geschah 1867, volle neun Jahre nach Auftragsannahme. Aber wen interessiert das heute noch? Inzwischen sind die Löwen 150 Jahre auf dem Trafalgar Square und ich frage mich gerade, wieso das nicht im letzten Jahr gefeiert wurde? Was für ein Versäumnis, da hätte London doch mal wieder richtig aufdrehen können. Nun gut, es lässt sich verschmerzen, denn auf dem Trafalgar Square finden ganzjährig, alle paar Wochen oder öfter, spektakuläre Veranstaltungen statt. Das beginnt mit dem traditionellen Neujahrsumzug und endet mit dem ‘Auld Lang Syne’ am Silvesterabend. Und zwischendurch, wenn nicht gerade ein Kulturfestival, ein Photo Shooting, Dreharbeiten oder ein Konzert stattfindet, dann kann es sein, dass die Londoner sich hier versammeln, um gegen irgendetwas zu demonstrieren. Auch das ist gute Tradition, das macht man (fast) immer auf dem Trafalgar Square. Und immer endet es in einer fröhlichen Party, denn die Revolution ist dem englischen Wesen eher fremd.

Wenn Sie nächstes Mal in Westminster auf dem Trafalgar Square stehen, dann lauschen Sie doch einmal den Löwen. Vielleicht erzählen die ihnen etwas von den vielen Sachen, die sie hier schon gesehen und erlebt haben.

NACHTRAG

Unter Kennern ist man sich einig. Die Tatzen sind misslungen! Mir war das nicht unbedingt sofort ins Auge gefallen, allerdings geht es mir wie dem Künstler, auch ich kenne mich mit der Größe und dem Format von Löwenfüßen wenig aus. Allerdings habe ich aus eigener Erfahrung eine genaue Vorstellung, wie eine Katzenpfote geformt ist und tatsächlich erinnern die Trafalgar Lion Paws eher an niedliche Katzenpfoten. Obwohl sich Sir Edward Landseer jahrelang mit der Materie beschäftigt hatte, war es ihm nicht gelungen, ein paar ‘richtige’ Pranken zu formen. Das fällt besonders auf, wenn man einmal andere Löwendenkmäler vergleicht. Und davon gibt es gerade in London mehr als genug. Der Löwe ist das Wappenzeichen der englischen Könige und findet sich überall; wenn daneben ein Einhorn zu sehen ist, dann weist man damit auf Schottland hin.

Egal, ob Figur, Wappen oder Gemälde, immer werden die Pfoten kraftvoll betont, eher überzeichnet als geschönt. Und das wollte Sir Edward einfach nicht gelingen. Man kann es drehen und wenden, wie man will, die Trafalgar Lions haben niedliche Katzenpfoten. Macht aber nix, denn sie sollen niemanden angreifen. – Wäre doch bloß ein einziger Fototourist auf die Idee gekommen, seine Miezekatze einmal zum Vergleich zwischen die Pranken zu setzen. Aber nein, immer nur kletternde Kinder. So musste ich also improvisieren, ähnlich wie Sir Edward, und selbst den Fotobeweis erstellen:

 

Von links nach rechts: Eine Katzenpfote, ein entspannter Löwenfuß, eine künstlerisch gestaltete Löwenpranke und der viel zu kleine Bronzefuß des Trafalgar Löwen.

 

UND WARUM SPRICHT DER LONDONER VON ‘LABRA-LIONS’?

Das Geheimnis will ich gerne lüften. Auch dieser Name ist eine Anspielung auf die misslungenen Füße bzw. Pfoten. Der Londoner macht sich allerdings mehr über die Hinterbeine, die ‘rear legs’, lustig. Wenn man weiß, dass Landseer einen Labrador hatte, der ihm in seinem Atelier ganztägig Gesellschaft leistete, dann kommt einem ein Verdacht. Dann merkt man auf einmal, dass die Löwen auf ziemlich hundeähnlichen Beinen ruhen. Mit anderen Worten, Landseer hat mindestens drei Tierarten in seine Löwen einfließen lassen. Macht aber nix, bekanntlich vereint schon die alt ägyptische Sphinx vier Wesen in ihrem Körper. Warum also nicht einen Löwen mit Katzenpfoten und Labrador-Heck kreieren? Und eigentlich muss ich noch ein viertes Wesen erwähnen, weil es untrennbar mit den Löwen verbunden ist. Ich spreche natürlich von dem Touristen, wovon immer mindestens einer auf dem Rücken der Tiere herumklettert. – Ja, mir fällt das unangenehm auf, denn es ist dem Gastgeber gegenüber respektlos. Aber der nimmt es gelassen hin.

 

Das ‘Guards Division Memorial’ steht am Rand des St James’s Park. Gegenüber ist der Paradeplatz der Horse Guard. Ganzjährige legen die Engländer hier Kränze nieder, um die gefallenen Soldaten zu ehren. Man sah sich veranlasst ein Schild aufzustellen: ‘As a mark of respect please refrain from climbing this memorial’.