Als ich diesen Beitrag plante, hatte die Königin gerade ihr 70-jähriges Thronjubiläum erlebt. Wir waren im Februar 2022. Draußen war es nass, kalt, und grau und noch immer bestimmte die Pandemie unseren Alltag. Im britischen Parlament ging es hoch her. Seit Beginn des Jahres wurde der Premierminister (Johnson) von seinen eigenen Leuten kritisiert. Täglich werden neuen skandalöse Geschichten veröffentlicht. Ohne Frage, da wird gezielt und gesteuert am Stuhlbein gesägt. Mal sehen, wie lange die unwürdige Inszenierung anhält. Es mag ganz unterhaltsam sein, aber Großbritannien steckt gerade tief im Schlamassel und kann sich diesen Führungsstil kaum leisten.

Während wir über den nicht endenden Regen jammern, müssen sich die Engländer mal wieder zwischen ‘eating or heating’ entscheiden. Für beides fehlt oftmals das Geld. Ich hoffe, die politische Krise wird bald überwunden sein und vermute, dass ein Wechsel bevorstehen könnte. Dann stehen wieder die Umzugswagen vor der Downing Street No. 10 und wir werden uns an ein neues Gesicht gewöhnen müssen. Für mich ein Grund mal aufzuzählen, welche Premierminister bisher im Amt waren. Dabei beschränke ich meine Auswahl auf die Damen und Herren, die der Königin,Elizabeth II, die Treue geschworen haben. Und dabei komme ich auf sage und schreibe 14 Amtsinhaber. Das hat mich überrascht, denn die britische Regierung ist gar nicht so stabil, wie es mir oft scheint. Regelmäßig wechselt die Macht zwischen der Tory Partei und Labour. Großer Unterschied zu Deutschland ist, dass Koalitionen in Großbritannien nicht gerne gesehen werden. Deshalb haben die kleinen Parteien kaum eine Chance, jemals am Kabinettstisch zu sitzen.

 

Sir Winston Churchill (27.10.1951 – 05.04.1955)

Auf eine neue Runde sagte sich der Zirkusgaul und lief los. Der Wahlsieg war knapp, aber das interessiert im Nachhinein niemanden. Bis Ende seiner Amtszeit herrschte in England noch große Lebensmittelknappheit. Die Bezugskarten wurden erst 1954 abgeschafft. In Deutschland waren die Geschäfte längst wieder voller Waren, die Währungsreform hatte es bereits 1948 möglich gemacht. In England hingegen herrschte Armut und Hunger. Trotzdem war es innenpolitisch relativ ruhig. Außenpolitisch schwelten die Brandherde. Es gab Krisen- und Kriegsgebiete und Streit um die Unabhängigkeit von Kolonien. Eigentlich war das ganz nach Churchills Geschmack, denn er vertrat den Erhalt des Britischen Empire und des Kolonialismus mit Überzeugung. Bis heute wird dieser Traum gelebt, zumindest in der Fantasie mancher konservativen Politiker. Darunter auch der aktuelle Premierminister (damals Boris Johnson). Aber der kommt erst ganz am Ende dieser Liste dran, gut 75 Jahre später.

Ein erneuter Schlaganfall bzw. vermutlich mehrere brachten Churchill zur Aufgabe. Der inzwischen Achtzigjährige sah ein, dass seine Gesundheit nicht mehr mitmachte. Er trat vorzeitig zurück und machte damit den Weg für seinen Parteikollegen frei.

Anmerkung: Keine vier Monate nach seinem Amtsantritt starb King George VI. und seine Tochter Elizabeth wurde Königin. Damit war Churchill ihr erster Premierminister.

 

Anthony Eden (06.04.1955 – 09.01.1957)

Ein gut aussehender Mann mit wohlklingendem Titel: Earl of Avon. Den bekam er allerdings erst später von seiner Königin als Dank für die Amtszeit verliehen. Nicht unüblich in England und die Eintrittskarte für eine lebenslange Mitgliedschaft im House of Lords. Das ist nicht nur finanziell vorteilhaft, sondern auch ein Sitz mit politischem Einfluss. Eden war ein geschickter Diplomat, wurde dreimal zum Außenminister ernannt und war der zweite Mann hinter Churchill während der Kriegsjahre. Und doch war es ein außenpolitischer Krisenherd, der ihn letztlich zur Aufgabe zwang. Die Sueskrise fiel in seine Amtszeit und als dann auch noch gesundheitliche Problem dazukamen, war klar, dass Eden abtreten muss. Edens kam aus einer wohlhabenden Familie, sein Vater war Grundbesitzer im County Durham, ganz im Norden von England. Die Mutter war einer Nachfahrin der Familie Grey, die zu den bedeutendsten des britischen Adels gehört. Das zählt noch immer, denn mit den richtigen Verwandten hat man Zugang zu den wichtigsten Häusern. Ob sich das jemals ändern wird? Kaum vorstellbar, denn das wäre dann auch das Ende der englischen Königsfamilie. Einerseits wirkt das wie eine Szene im Disneyland, andererseits haben die adligen Familien noch immer größten Einfluss auf Land und Leute.

Bis 1970 können die Konservativen die Downing Street verteidigen. Nachfolger von Eden wird Harold MacMillan und dann tritt Sir Alec Douglas-Home an, ein Earl geboren in London, Mayfair. Er war das letzte Mitglied des House of Lords, das zum Premierminister berufen wurde. Vor Einzug in die Number 10 hat er schnell noch den Adelstitel abgelegt. Trotzdem konnte er sich nicht als der Kandidat des Volkes verkaufen und es kam zum Systemwechsel. Harold Wilson, Labour Partei, gewann die nächste Wahl. Als der 1970 eine Neuwahl ansetzt, verliert er überraschend und zieht sich danach aus der Politik zurück. Erneut übernehmen die Konservativen das Ruder.

 

Edward Heath (23.06.1970 – 04.03.1974)

Nach einem Earl und einem Lord wird jetzt der Sohn eines Zimmermannes und einer Hausangestellten das höchste Amt übernehmen. Eigentlich wollte der musikalisch begabte Edward Heath Musiker werden, aber dann kam der Krieg dazwischen. Als Offizier erlebte er das zerstörte Deutschland und die Erfahrung ließ ihn zum überzeugten Europäer werden. Mit Begeisterung setzte er sich für ein vereintes Europa ein. Sein Wahlerfolg war für alle eine Überraschung und für ihn ein persönlicher Triumph. Er schaffte es und setzte gegen alle Widerstände den EU-Beitritt Großbritanniens, im Jahr 1972, durch. Innenpolitisch erlebte er raue Jahre. Die Wirtschaft änderte sich rapide. Der Container hält Einzug im Hafen und machte die Arbeiter überflüssig. Im Bergbau wurden die Zechen geschlossen, weil das Öl billiger war. Die Gewerkschaften stemmten sich mit aller Kraft gegen die Massenentlassungen. Zusätzlich setzte die Bildungsministerin ein rigoroses Sparprogramm durch. Sie schaffte überraschend die Schulmilchspeisung ab, die viele Kinder dringend benötigten. Ihr Name war Margaret Thatcher. Sie lief sich im Kabinett von Heath schon mal für die eigene Karriere warm. Edward Heath geriet zunehmend unter Druck und musste sich schließlich einer Neuwahl innerhalb der eigenen Partei stellen. Eine der Gegenkandidaten war Margaret Thatcher. Sie bekam die nötigen Stimmen und schließlich wurde dann auch das Volk um Neuwahl gebeten.

Nach den internen Streitigkeiten bei den Conservatives und dem Gerangel um den Spitzenkandidaten, geht man geschwächt in den Wahlkampf. Prompt verliert man und Labour übernimmt erneut. Zunächst zieht Harold Wilson in die Downing Street ein und drei Jahre später übernimmt sein Parteifreund James Callaghan den Amtssitz. So kann die Labour Partei fünf Jahre lang die politische Richtung bestimmen. Callaghan beabsichtigte die Wirtschaft anzukurbeln und bremste dafür die Löhne aus. Vier Jahre lang wurden Erhöhungen eingefroren und als er auch im fünften Jahr darum bat, war die Geduld am Ende. Die Gewerkschaften riefen zum Streik auf. Der sogenannte ‘Winter of Discontent’ bricht heran. Viele Engländer waren damals arbeitslos, hatten kein Geld, um zu heizen und manche hungerten sogar. Die Not war groß und damit auch die Sehnsucht nach einem Neuanfang. Bei der Wahl entschied man sich deshalb erneut für einen Wechsel. Die Hoffnungen, dass die Konservativen es besser machen würden, war der Grund.

 

Margaret Thatcher (04.05.1979 -22.11.1990)

Nachdem die Männer versagt hatten, baute man auf eine Frau. Die ‘eiserne Lady’ sollte es richten. Sie hatte eine bemerkenswert lange Amtszeit, mit zwei erfolgreichen Wiederwahlen. Noch eine Gemeinsamkeit lässt sich mit Angela Merkel, der späteren deutschen Kanzlerin feststellen: Beide Frauen hatten sich zunächst für die Naturwissenschaft entschieden. Frau Thatcher studierte Chemie und fand erst danach in die Politik. Außenpolitisch fällt die deutsche Wiedervereinigung in diese Periode. Wir wissen, dass Mrs Thatcher sich damit nicht anfreunden konnte, weil sie Angst vor einem erstarkten Deutschland hatte. Margaret Thatcher hatte ganz neue Ideen, die sie auch umsetzte. Sie krempelte den britischen Regierungsstil um, gab neue Inhalte und Ziele vor. Weg vom Sozialstaat, hin zu einer starken Wirtschaft, die jeden ernähren konnte, der arbeitswillig war. Sie war eine große Persönlichkeit, überzeugend und schreckte selbst vor einem Krieg nicht zurück. Im fernen Falkland durfte die Navy sich beweisen. Wann immer sie sich mit den Mächtigen ihrer Welt traf, wusste jeder, dass es harte Diskussionen werden. Als Margaret Thatcher gehen musste, war Großbritannien ein anderes Land geworden. Thatcher war ein Arbeitstier und kam mit dem Ruhestand nicht gut zurecht. Sie hatte sich zusammen mit ihrem Mann Denis ein komfortables Stadt-Haus am Chester Square in Belgravia gekauft, aber vermutlich hat sie es nur wenig genießen können. Der Machtverzicht, der Rückzug auf die eigene Person und die einkehrende Stille waren nicht die Dinge, die sie brauchte. Man kann ihre Amtszeit verherrlichen oder auch verdammen, aber eines kann nicht geleugnet werden, nämlich dass sie zu den großen britischen Politikern gehörte.

 

John Major (28.11.1990 – 02.05.1997)

Nach Rücktritt seiner Vorgängerin wurde er zum neuen Vorsitzenden der Konservativen Partei gewählt und damit automatisch Premierminister. Außenpolitisch musste er sich mit dem 2. Golfkrieg beschäftigen und innerpolitisch einen Anschlag überleben. Die IRA hatte drei Granaten auf den Amtssitz in der Downing Street 10 abgefeuert. Zwei verfehlten ihr Ziel, eine explodierte im Garten. Zum Glück wurde niemand ernsthaft verletzt, trotzdem war der Schock groß. Anschließend riegelte man die Straße an beiden Enden ab, so wie wir es heute vor Ort sehen können. Trotzdem gibt es wohl kaum eine zweite große Stadt, die den Touristen solche Nähe zu ihren Verwaltungsgebäuden erlaubt. Am Außen- oder Verteidigungsministerium kann man in nächster Nähe vorbeigehen, ohne überwacht zu werden. Und der Garten der Downing Street ist auch nur durch eine Mauer vom anschließenden Gelände getrennt. Das ist noch immer öffentlich frei zugänglich. Sie haben Vertrauen und das ist eigentlich gut. Oder, wie sie es damals nach dem IRA-Anschlag formulierten: Democracies cannot be intimidated by terrorism. Wie fast alle Premierminister sah sich auch John Major zunehmender Kritik ausgesetzt. Als letztes Mittel greift man dann gerne zu Neuwahlen, in der Hoffnung, dass das Volk gnädiger als die Kollegen urteilen wird. Das erweist sich oft als Fehleinschätzung und so musste dann auch er den Umzugswagen bestellen.

 

Tony Blair (02.05.1997 – 27.06.2007)

Der Superstar brachte ganz frischen Wind in die muffigen Räume. Er war jung, dynamisch, gehörte der Labour Partei an und wurde Vater während seiner Amtszeit. Ein brillanter Politiker, der nicht nur im eigenen Land bewundert und geschätzt wurde. Als George Bush um Unterstützung bat, schickte Blair britische Soldaten in den Irak. Man machte Jagd auf Saddam Hussein und legte der Welt Beweise für dessen tödliche Waffenlager vor. Leider waren die Unterlagen manipuliert, die tödliche Munition wurde nie gefunden. Blair wusste von der Lüge und als das alles sehr viel später ans Licht kam, wurde aus dem politischen Superstar eine unerwünschte Figur. Blair konnte das egal sein, jedenfalls finanziell, denn nach der politischen Karriere startete er als Berater für Großkonzerne in aller Welt. Egal, ob in den USA, Ägypten oder China. Blair unterschrieb den Vertrag, wenn die Summe stimmte. Er dürfte inzwischen zu den reichsten Ex-Politikern gehören, die je in der Downing Street gedient haben. Blair hatte sich als Labour Abgeordneter häufig über Steuerflucht und -schlupflöcher geäußert. Später hat er von beiden ausgiebig Gebrauch gemacht. Seinen guten Ruf hat er deshalb längst verloren. Aber wahrscheinlich ist es ihm nicht besonders wichtig. Dass er sich während der Brexit Debatte für einen Verbleib in der EU starkgemacht hatte, war für die Sache nicht vorteilhaft. Es wäre besser gewesen, wenn er still geblieben wäre, denn wenn der gute Ruf erst einmal verloren ist, dann glaubt einem keiner mehr. Selbst dann nicht, wenn die Argumente stimmen.

 

Gordon Brown (27.06.2007 – 11.05.2010)

Wahrscheinlich vergessen ihn die meisten Leute, wenn sie die Liste der Premiers aufzählen sollen. Still, fleißig und ohne viel Aufsehen, hat er seine Arbeit gemacht. Er gehörte der Labour Partei an und stammte aus Schottland. Das war schon eine Sensation, denn die kleinen Nationen haben Mühe sich gegen England durchzusetzen. Fast alle Premierminister waren Engländer. Schon während der gesamten Amtszeit seines Vorgängers war er Schatzmeister und ohne Frage einer der erfahrensten Männer im Kabinett. Gordon Brown gewährte ziemlich überraschend der Bank of England uneingeschränkte Freiheit in der Geldpolitik. Das wurde argwöhnisch beäugt, denn nun konnten die Banker die Zinssätze selbst festlegen und man sah darin den ersten Schritt zur Abschaffung des britischen Pfund Sterling. Das hätte noch gefehlt, nicht nur EU-Mitglied zu sein, sondern auch den Euro als Zahlungsmittel zu bekommen. Brown war ein brillanter Politiker, denn er schaffte es, die britische Wirtschaft zu stabilisieren. Die Arbeitslosenquote senkte er dauerhaft. Trotzdem wurde er intern bekämpft, ganz besonders von Tony Blair. Es fehlte an Charisma, was sein Vorgänger überreichlich hatte. Gordon Brown galt als Langweiler und wenn dann die eigenen Leute die Unterstützung verweigern, dann ist der Kandidat chancenlos. Die nächste Wahl wurde von ihm prompt verloren und erneut fiel das Regierungsamt an die Konservativen.

 

David Cameron (11.05.2010 – 13.07.2016)

Ein kluger Kopf und guter Redner. Mit schicken Klamotten, einer prominenten Frau und viel Glamour. Hurra, mit ihm war das 21. Jahrhundert auch in der Downing Street eingezogen. Cameron ist mit vielen Politikern eng befreundet, die aktuell regieren. Schon auf der Uni begegnete ihm Boris Johnson. Beide waren Mitglieder im Debattier Club in Oxford, einer exklusiven Studentenvereinigung. Sie waren Freunde, aber auch Rivalen. Vermutlich wussten sie schon damals, dass das Amt des Premierministers unbedingt auf ihrer Agenda stehen sollte. Cameron war vor der politischen Karriere in der Wirtschaft tätig. Seine Ahnenreihe kann sich sehen lassen, sowohl er als auch seine Frau Samantha sind weitläufig mit dem britischen Königshaus verwandt.

Kurz vor seiner Wahl traf die Familie ein schwerer Schicksalsschlag. Eines ihrer vier Kinder, ein Sohn, starb an Kinderlähmung. Sie teilten ihre Trauer mit der Öffentlichkeit, die großen Anteil nahm. Cameron war ein solider Politiker, der auf Ausgleich bedacht war. Er suchte lieber die Mitte, als sich festzulegen. Es gelang ihm nicht, die Parteiflügel der Torys zu vereinen. Im Gegenteil, der Riss wurde tiefer und der Kampf verbitterter. Es bildete sich ein starkes rechtes Lager mit prominenten Mitgliedern, die letztlich lautstark den Austritt aus der EU forderten. Gleichzeitig sank Camerons Beliebtheit, ihm brachen die Wählerstimmen weg und seine diversen Bittsteller-Reisen nach Brüssel brachten auch keine konkreten Ergebnisse. Den Briten hatte man längst Sonderkonditionen innerhalb der EU eingeräumt, da war kein Spielraum mehr vorhanden, um zusätzliche Vereinbarungen zu treffen. Und so kam Cameron stets ohne Geschenke aus Brüssel zurück und die Stimmung gegen ihn und die EU wurde immer düsterer. Als das Wahljahr anbrach, griff Cameron zu einer List. Er bot den Wählern eine Abstimmung über den Verbleib in der EU an, wenn sie ihn wiederwählen würden. Tatsächlich ging der Plan auf, er gewann die Wahl und musste sein Versprechen halten. Eigentlich kein Problem, denn niemand rechnete mit einer Mehrheit für den Austritt. Weil aber die Wahlbeteiligung extrem niedrig war und die Brexit Anhänger eine gigantische Propagandaschlacht hingelegt hatten, passierte das Unfassbare. Die Briten stimmten mit knapper Mehrheit für den Austritt. Für Cameron blieb nur noch der sofortige Rücktritt.

 

Theresa May (13.07.2016 – 24.07.2019)

Mal wieder brauchten die Konservativen über Nacht einen neuen Vorsitzenden. Wer immer es werden würde, er oder sie wäre damit automatisch auch Premierminister. Ein halbes Dutzend Kandidaten meldeten sich und darunter auch die amtierende Innenministerin Theresa May. Sie wusste so gut wie alle anderen, dass sie chancenlos war, aber es sieht nun mal besser aus, wenn sich ein paar namhafte Kandidaten freiwillig melden. Favorit war Boris Johnson, der gerade seine zweite Amtszeit als Londoner Bürgermeister beendet hatte. Er würde seine Kandidatur erst kurz vor Bewerbungsschluss melden, so machen es die Alpha-Tiere. Schon in den Vortagen gab es dann einige überraschende Absagen. Einer glaubte zu jung für das Amt zu sein, ein anderer Bewerber hatte es sich noch einmal überlegt und so ging es munter weiter. Es blieben drei oder vier Namen übrig.

Als der große Tag kam, an dem Johnson sich offiziell melden musste, spielte sich ein Drama ab. Sein wichtigster Mann und Unterstützer, Michael Gove, hatte sich am frühen Morgen entschieden, selbst anzutreten. Das kam aus heiterem Himmel und niemand wusste davon. Ein K.-o.-Schlag für seinen politischen Freund Johnson, der ohne Goves Hilfe chancenlos war. Er verzichtete daraufhin und Michael Gove, der nun als Verräter galt, zog ebenfalls zurück. Das Ganze war wohl eine ziemlich unausgegorene Schnapsidee. Dadurch blieben nur noch zwei Kandidaten übrig, ein Unbekannter und Theresa May. Am nächsten Tag wurde sie zur Siegerin erklärt und war damit Parteivorsitzende und automatisch auch Premierministerin.

Niemand war wohl überraschter als sie selbst. Vielleicht hat mancher ihr auch großzügig die Stimme gegeben, weil damit die unangenehme Aufgabe, den Brexit zu verhandeln, in ihre Verantwortung gelegt worden war. Selbst war sie eher für den Verbleib in der EU, stellte aber ihre persönliche Meinung hintenan. Nie kam jemand auf die Idee, dass der Volksentscheid, den Cameron leichtfertig ins Leben gerufen hatte, nie rechtlich bindend war. Man hätte das Ergebnis problemlos als Empfehlung verstehen können und dann schnell vergessen oder die folgenschwere Entscheidung dem Parlament zur Diskussion und Abstimmung vorgelegt. Aber Mrs May nahm ihre Aufgabe ernst, war bereit, das Unmögliche mögliche zu machen. Sie ließ keine Gelegenheit aus, um irgendwie doch noch einen guten Kompromiss zu erzielen. Alles schien ihr besser zu sein, als ein vertragsloser Abschied. Man demütigte sie, so sehr, dass es beim Zuschauen weh tat. Das geschah sowohl in Brüssel als auch im britischen Parlament. In Brüssel ließ man sie an einem leeren Tisch warten, lange quälende Minuten, dokumentiert für die Öffentlichkeit durch einen Kameramann, der filmen durfte. Ein perfider und ziemlich primitiver Angriff auf die Frau. Im Unterhaus verlor sie eine Abstimmung nach der nächsten. Es war zutiefst demütigend, wie ihre eigenen rechten Parteifreunde sich gegen sie verschworen hatten. Als sie schließlich ihren Abschied nehmen musste, liefen Tränen. Ich war an dem Tag in London, stand auf dem großen Paradeplatz und plötzlich fuhr sie in ihrer Limousine an mir vorbei. Sie bogen links in die Straße ein und folgten dann der Mall bis zum Buckingham Palast. Dort wartete die Königin, um ihr die Entlassungsurkunde zu überreichen. Mir tat Theresa May in dem Moment leid.

Heute habe ich große Bewunderung für ihre Entscheidung trotz der Niederlage weiter im Parlament zu sitzen. Sie sucht ihren Platz stets auf einer der hinteren Bänke, wo sie als gewählte Abgeordnete ihres Wahlkreises den wilden Debatten zuhört, die immer öfter ihren Nachfolger, Boris Johnson, in die Enge treiben. Wahrscheinlich schmunzelt sie, aber man kann es nicht sehen, denn sie gehört zu ganz wenigen, die konsequent einen Mundschutz während der Coronazeit tragen. So ist sie nun mal, prinzipientreu und charakterstark.

 

Am 24. Juli 2019 wurde Boris Johnson zum Parteivorsitzenden gewählt. Er folgte damit Theresa May nach und wurde damit auch automatisch Premierminister. Eine später nachgezogene allgemeine Wahl hat ihm eine überraschende Mehrheit von 80 Kandidaten im Unterhaus gebracht. Dieser komfortable Vorsprung wurde inzwischen von ihm verspielt. Ihm droht eine Vertrauensabstimmung, die er verlieren könnte. Warten wir es ab, wann seine Amtszeit beendet wird. Er will bis 2029 in der Downing Street bleiben und fügt mit markigen Worten hinzu, dass man ihn schon mit Gewalt dort herausholen muss, weil er freiwillig niemals weichen wird. Wer weiß, die Prophezeiung könnte wahr werden, viele sind extrem verärgert und halten seinen Führungsstil für nicht länger hinnehmbar. Gut möglich, dass dann erneut die Labour Partei die Führung übernehmen kann. Einen vielversprechenden Vorsitzenden haben sie inzwischen gefunden. Er könnte das Land in ruhigeres Fahrwasser lenken und vor allem die Wunde heilen, die durch die politische Polarisierung der letzten sieben Jahre entstanden ist.

Inzwischen sind zwei weiter Premiers gewählt worden. Lizz Truss schaffte gerade einmal sieben Wochen, dann folgte der Nachfolger Rishi Sunak. Er geht bisher sehr klug mit den internen Problemen um. Statt der üblichen Hau-Ruck Aktionen, wartet er ab, bis sich eine Gelegenheit bietet. Inzwischen hat er auf diese Weise schon einige der politisch potentesten Gegner aus der eigenen Partei loswerden können. Ein wenig erinnert es mich an Frau Merkel, die auch in aller Stille einen Herausforderer nach dem anderen abservierte. Vielleicht geht die Rechnung auch für Sunak auf, warten wir es ab. Nächstes Jahr darf dann endlich einmal wieder der Wähler entscheiden, was allerdings kaum berechenbar ist. Die Engländer gehen erstaunlich verschwenderisch mit ihrem Wahlrecht um. Viele verzichten, andere machen ihr Kreuz irgendwo und halten das für den Moment für ganz lustig. Nun ja, vielleicht auch eine Nebenwirkung der Wahllokale. Die sind nicht selten in einem Pub zu finden. An einem der Tische wird gewählt und an den anderen getrunken.


Alle Fotos der Politiker habe ich in Wikipedia gefunden. Sie waren als ‘gemeinfrei’ gekennzeichnet. Der Fotograf war unbekannt.

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