Vor sieben Monaten, Anfang September 2022, hatte ich einen Beitrag über die britischen Premierminister geschrieben (siehe Seite 2). Meine Liste begann bei Clement Attlee, der im Sommer 1945, also gleich nach Ende des Zweiten Weltkriegs, gewählt wurde und sie endete mit Boris Johnson. Der trat nicht ganz freiwillig kurz später zurück und seitdem sind bereits zwei Nachmieter in die Downing Street gezogen. Es scheint so, als würden die Premierminister in immer schnelleren Tempo wechseln. Stimmt das?

Für die Zeit nach David Cameron stimmt es ganz sicher. Er hatte zur Volksabstimmung bezüglich der EU aufgerufen, die dann anders ausging als vermutet. Darauf trat er im Juli 2016 zurück. Dann folgte im Amt Theresa May (1.106 Tage), Boris Johnson (1.140), Liz Truss (49) und schließlich Rishi Sunak, heute seit 175 Tagen im Amt. 

Eine Margaret Thatcher brachte es noch auf 11 Amtsjahre, was 4.226 Tagen entspricht. Und auch Tony Blair von der Labour Partei war zehn Jahre (3.708) lang Premierminister. Das scheint heute nicht mehr erreichbar zu sein. Warum?

Vergleichen wir mal die politische Stabilität von UK und DE nach dem Zweiten Weltkrieg. 

 

Grafik: Brigitte Peters

 

In beiden Ländern wechselte die Regierungsmehrheit regelmäßig zwischen den beiden großen Parteien. In Deutschland gelingt das nur mit Koalitionspartnern, inzwischen sogar Dreierbündnissen, in England haben die kleineren Parteien so gut wie nichts zu sagen. Koalitionen vermeidet man um jeden Preis. Man hat die Sicht eines Sportlers und sagt, es kann nur einen Sieger geben. Wenn der Zweite sich mit dem Dritten zusammentut, dann ist das unfair. Trotzdem gelingt der Vergleich zwischen beiden Ländern, denn auch bei uns war es bisher immer ein Kampf zwischen CDU und SPD, was der Conservative und der Labour Partei entspricht.

Interessanter sind die Punkte unter den Parteien. Sie zeigen die Anzahl der Premierminister/Kanzler während einer ununterbrochenen Regierungszeit. Da ist in UK deutlich mehr Bewegung drin, als bei uns. Kein Wunder, denn wir neigen offensichtlich am Festhalten von Bewährtem. Da gab es Phasen, die uns alle in ein Gefühl der endlosen Sicherheit einlullten. Schon der erste gewählte Kanzler nach dem Krieg, Konrad Adenauer, brachte es auf 14 Jahre Amtszeit. In Tagen gezählt, war er 5.144 Tage am Ruder. Rekord? Nein, er wurde gleich zweimal überboten. Einmal von Helmut Kohl, 5.870 Tage, und dann von Angela Merkel, mit fast identischen 5.860 Tagen. Übrigens spricht es für sie, dass darauf nicht geachtet hat. Bei Boris Johnson war es definitiv anders, er setzte Himmel und Hölle in Gang, um seine Vorgängerin Theresa May zu überbieten. Da war wohl sehr viel Eitelkeit im Spiel, denn den Wert eines Politikers würde ich nicht an der Anzahl seiner Amtsjahre festmachen. Allerdings gibt es auch Ausnahmen, denn bei Lizz Truss erscheint mir der Umkehrschluss durchaus sinnvoll.

 

Fünf Premiers, die innerhalb von sechs Jahren das Büro in der Downing Street nacheinander bezogen. Das entspricht noch nicht einmal der Hälfte der Amtszeit von Angela Merkel. Es scheint also Unterschiede zu geben zwischen den Erwartungen deutscher und britischer Wähler.

 

In England bzw. im britischen Parlament fällt auf, dass ein Rücktritt des Premiers nicht dazu führen muss, dass danach die Opposition an die Reihe kommt. Wenn ich mich richtig erinnere, verlor nur Helmut Schmidt sein Amt durch ein Misstrauensvotum, was zu Neuwahlen führte. Sein Vorgänger Willy Brandt stolperte über eine Spionage-Affäre und übergab dann intern an den Parteikollegen Helmut Schmidt. Damals ein riesiger Aufreger und seltene Ausnahme in der deutschen Nachkriegspolitik.

 

Die Labour Partei will ich nicht unterschlagen. Angefangen bei Attlee, der überraschend Churchill nach Kriegsende ablöst. Dann Harold Wilson, der nach kurzer Pause ein zweites Mal gewählt wurde und der bekannt Tony Blair. Der Schotte Gordon Brown agierte etwas glücklos und verlor dann prompt an die Tory Partei.

 

In England ist das anders. Dort verlieren Premierminister ziemlich oft das Vertrauen im Parlament und werden auf diese Weise zum vorzeitigen Rücktritt gezwungen. Das führt aber nie zu einer Neuwahl. Man einigt sich parteiintern auf einen neuen Vorsitzenden, der/die gleichzeitig dann in die Downing Street einzieht. So war es bei Theresa May, Boris Johnson, Liz Truss und Rishi Sunak. Bis auf den amtierenden Chef, und an seinem Stuhl wird lautstark gesägt, wurden sie alle von den eigenen Parteifreunden verjagt. Eine Umgangsform, die in Deutschland unbekannt ist. Wer also in UK Premierminister wird, muss vor allem die Gegner aus den eigenen Reihen fürchten. Vielleicht hat es mit den fehlenden Koalitionspartnern zu tun. Es gibt zwar eine Grüne Partei und auch eine Liberale, aber sie sind bedeutungslos. Der Gesinnungsstreit findet innerhalb der beiden großen Mächte, also Tory und Labour, statt. Die Konservativen, die jetzt seit vielen Jahren an der Macht sind, haben einen extrem positionierten rechten Flügel, der den Brexit mit Gewalt durchgesetzt hat. Es gibt aber fast genauso viele Tory Mitglieder, die lieber in der EU geblieben wären. Beide Partei-Flügel knallten in den letzten Jahren heftig aufeinander und das in aller Öffentlichkeit. Theresa May wurde Opfer, aber auch Johnson und Liz Truss. Rishi Sunak, der aktuelle Premier, hat mehr mit der Besänftigung seiner Parteifreunde zu tun, als mit den Angriffen aus der Opposition. So gesehen ist das britische Parlament seit vielen Jahren auf einem komplett anderen Kurs als die bundesdeutschen Politiker. Wir sehnen uns nach nicht endender Sicherheit und fürchten deshalb jede Veränderung, die Engländer hingegen fürchten sich vor Langeweile und stimmen deshalb gerne jeder verrückten Idee zu, solange sie ein wenig Unterhaltung verspricht. Vielleicht sollten sich die beiden Häuser öfter mal zusammensetzen und vom anderen lernen. Vielleicht kann man ein Austauschprogramm starten, wo jeder mal für einige Jahre beim Nachbarn stellvertretend abstimmen muss. Schlimmer kann es eigentlich nicht werden, egal ob hier auf dem Kontinent oder auf der Insel.

 

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