30. Dezember 1919

Lincoln’s Inn kündigt Großes an. Es gibt vier ‘Inns of Court’ in London, die eng beieinander liegen. Es handelt sich um Anwaltskammern, die seit dem 14. Jahrhundert rund um die Temple Church angesiedelt sind. In den alten Häusern sind die Kanzleien der Anwälte (barrister) untergebracht. Man kann sich kaum einmieten, man muss schon ‘erbberechtigt’ sein, um hier ein Büro zu ergattern. Die Häuser sind klein, die Büros winzig. Trotzdem liest man am Klingelschild eine nicht endende Reihe von Namen. Einige davon sind die Bosse, die anderen sind Mitarbeiter (mit Uni-Abschluss), die sich bei ihnen einfinden, wie junge Hunde im großen Rudel. Einige wenige wohnen sogar in den Häusern, vermutlich sehr beengt und eher einfach eingerichtet, aber mit einer Adresse, die jeden beeindruckt.

Die vier Kammern bilden ihre Studenten aus. Wer den Abschluss an der Universität schafft, kann Mitglied seiner Kammer werden und hat damit die Lizenz, um am Gericht aufzutreten. Ende 1919, am vorletzten Tag des Jahres, wurde erstmals eine Frau als Studentin akzeptiert. Eine Sensation, die vermutlich Wellen schlug. Jedenfalls bei den drei anderen Kammern: The Honourable Society of the Inner Temple, … of the Middle Temple und … of Gray’s Inn.

 

[/media-credit] Einer der wenigen Eingänge zu den Inn-Fields. Das ist alles privater Grund und die Tore werden abends und am Wochenende verschlossen. Während der Woche kann man so tun als wäre man Anwalt und hoffen, dass niemand nachfragt. Wer sich als Tourist mit Kamera zu erkennen gibt, läuft Gefahr höflich abgewiesen zu werden. Ist mir aber noch nie passiert, die sind eigentlich alle sehr nett.

 

29./30. Dezember 1940

Wer damals schon lebte und in London war, wird es nicht vergessen haben. In der Nacht erlebte London einen der schlimmsten Bombenangriffe während des Krieges. Die Deutschen Bomber richteten furchtbare Schäden an. Die Guildhall und St Bride’s Church wurden zerstört. Große Teile des Hafens und Gebiete rund um St Paul’s Cathedral. Dass die Kirche stehen blieb, ist ein Wunder. Dafür wurde ein ganzer Stadtteil ausgelöscht, dort wo heute Barbican zu finden ist. Mehr als 160 Menschen starben, unzählige waren verletzt und obdachlos. Die Bomben entfachten gewaltige Brände, die schließlich als ‘Second Great Fire of London’ benannt wurden.

London wurde schon seit über einem Jahr fast täglich bombardiert. Man war es gewohnt, nahm es mit stoischer Gelassenheit hin, denn man hatte wenig entgegenzusetzen. Oft wurden die U-Bahnhöfe als Bunker genutzt, als aber eine große Bombe ausgerechnet in einen solchen Schacht hineinrollte und dann explodierte, war das Entsetzen groß. Die Menschen, die dort Schutz gesucht hatten, darunter viele Kinder, kamen elendig ums Leben. Im Dezember nahm die Häufigkeit der Angriffe ab. Es war stets guter Brauch zu Weihnachten eine Waffenruhe einzuhalten, deshalb war man nicht überrascht. Die Londoner fühlten sich am Vorabend des Jahresende sicher. Doch dann kamen völlig unerwartet die Flugzeuge und warfen mehr Bomben ab, als je zuvor. – Ich habe mit zwei oder drei Londonern gesprochen, die das damals erlebt hatten. Sie sind heute Pensionäre im Royal Hospital Chelsea. Sie konnten sich an die Nacht erinnern und waren noch immer verwundert, dass man so unfair agierte. Allerdings machten sie mir natürlich keine Vorwürfe, das habe ich niemals in London erlebt. Ganz im Gegenteil. Wenn ich mich mal für die Taten der damaligen Generation schämte, klopfte man mir tröstend auf die Schulter und sagte mit breiten Grinsen: “After all, we beat you up pretty badly.”

 

30. Dezember 1952

An diesem Tag ist etwas ebenso Dramatisches wie Lustiges, passiert. Ich wäre gerne als Augenzeuge dabei gewesen. Die Situation mutet sehr ‘englisch’ an, könnte eigentlich auch aus einem Sketch von Mr. Bean stammen. Es passiert auf der Tower Bridge. Der Bus, Linie 78, fuhr gerade über die Brücke, von Süden nach Norden. Der Fahrer, mit dem deutsch anmutenden Namen Albert Gunter, staunte nicht schlecht, als sich plötzlich die Straße vor ihm bewegte. (Zum Glück war er ein geborener Engländer, sonst hätte er sich gar nicht getraut, das zu tun, was er dann tat.)

Geistesgegenwärtig realisierte er, dass die Brücke geöffnet wurde. Mit der Fahrbahn hob sich auch sein Bus langsam aber sicher an. Gunter reagierte blitzschnell. Er gab Vollgas, sprang mit dem Bus über den inzwischen deutlich sichtbaren Spalt und landete krachend auf dem Nordflügel, der sich noch nicht so weit gehoben hatte. Bus und alle zwanzig Fahrgäste hatten das Manöver heil überstanden. Nur der Fahrer hatte sich das Bein gebrochen und musste ins Krankenhaus. Er war der Held von London.  

Die Situation war wirklich gefährlich, denn der Fahrer konnte nicht sicher sein, dass man ihn und den Bus rechtzeitig sehen würde. Die beiden Brückenflügel öffnen sich im Winkel von über 80 Grad. Da war die Gefahr groß, dass er mit dem Fahrzeug und allen Passagieren ganz einfach in die Themse stürzen würde. Gunter hatte im Krieg Erfahrungen als Panzer-Fahrer gemacht. Er wusste, was die Dinger aushalten können und dachte sich, der Bus wird es dann wohl auch schaffen. Auf jeden Fall hatte er sich richtig entschieden, wie das Ergebnis bewies.

Für sein mutiges Handeln erhielt er eine Prämie von zehn Pfund, was heute etwa 330 Euro entspricht. Außerdem wurde ihm ein zusätzlicher Urlaubstag gewährt. Auf die Frage, was er mit dem Geld machen wird, antwortete er charmant, dass er fünf Pfund selbst ausgeben wird und seine Frau den Rest bekommt. Tolle Geschichte, passt zum Jahreswechsel und ist auch noch wahr.

 

[/media-credit] So weit waren wohl die beiden Brückenflügel geöffnet, als Gunter mit seinem Bus zum Sprung ansetzte.

 

Es gab übrigens noch ein nettes Nachspiel. Die Geschichte vom mutigen Busfahrer wurde zum Thema in einem Buch gemacht. Es heißt “The Tower Bridge Cat” und wendet sich an die Kinder. Die Katze heißt ‘Bella’ und sie erzählt von ihren Abenteuern. Eine Menge Geschichten, die sich tatsächlich an, auf oder unter der Tower Bridge ereignet haben. Dazu gibt es nette Zeichnungen. Man kann es im Shop an der Brücke kaufen.